Leukämie ist Scheiße! Teil 5

„Sick And Tired“ (Chris Kenner, Fats Domino)

Der 8. Jänner ist der erste Tag, an dem ich keine chemotherapeutische Flüssigkeit mehr infundiert bekomme, nur noch das Antibiotikum und den gewohnten Riesenbeutel „Red Bull“ (diese dünne Kochsalzlösung mit 6% einer isotonischen Flüssigkeit), für den ich wie immer mehr als eine Stunde brauchen werde.
Bald darauf nimmt Professor Jäger die Visite ab, begleitet von einer Heerschar Schwestern, Jungärzten und Studenten. Der aktuelle Blutbefund wird mir übergeben, ein Blatt Papier mit verschiedenen Grafiken und einem Wust an Abkürzungen und dazugehörigen Zahlen, sowie einem handschriftlichen Vermerk. Wie schon zuvor oft kann ich mit all dem nichts anfangen, lasse mir aber erklären, dass das „weiße Blutbild“ nunmehr so gut wie nicht mehr vorhanden ist, während sich das „rote Blutbild“ bereits in einem kritisch niedrigen Zustand befindet, wodurch eine Bluttransfusion in Bälde notwendig sein wird (das also ist der handschriftliche Vermerk). Abermals schärft mir Jäger ein, dass ich jetzt kein Immunsystem mehr habe und mir jeden verfügbaren Keim einhandeln würde, falls mich einer oder auch mehrere erwischt; unangenehme Infektionen wären die Folge. Fieber würde ich in ein paar Tagen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bekommen, meist als eine Folge der Therapie, selten wegen eines Infekts. Man würde jedenfalls genau beobachten und gegebenenfalls Maßnahmen ergreifen.
Eher zufällig bemerkt er meine „Paradepustel“ am rechten Schienbein, eine Folge des derzeit zwar nicht aktiven, aber doch in mir befindlichen „Lupus Erythematodes“, dieser lästigen Hautkrankheit als Spätfolge von UV-Strahlen, von deren Existenz ich erst seit ein paar Jahren Kenntnis habe. Diese und noch andere betroffene Körperstellen werden fotografiert werden, und außerdem wird mich mein Dermatologe besuchen.
Später werden zwei Mal 300 ml Blut infundiert, und abends wird der schon ein paar Tage alte Ven-Flo entfernt, der eine Einbahn hinein ist und sich zur Entnahme von Blutproben nicht mehr eignet.
Endlich kann ich mich ordentlich brausen gehen, hurra! Über die Qualität des Duschkabäuschens will ich mich nicht verbreitern, es spritzt in alle Richtungen, die Mischbatterie ist mit einer Hand nicht zu bedienen, und der Schlauch ist an vielen Stellen undicht – daheim hätte ich so ein Klumpert längst hinausgeschmissen. Zufällig entdecke ich bei den Reinigungs- bzw. –abtrocknungstätigkeiten an der Innenseite meiner Oberschenkel großflächige Verfärbungen, blau/rötlich, die wie Hämatome aussehen.
Zu meiner Überraschung erscheint wenig später Dermatologe Dr. Heil, den ich seit Jahren kenne, weil er sich halbjährlich um meinen Lupus kümmert, ihn beobachtet und behandelt. Zufällig im Dienst ist er gleich selbst heraufgekommen, um sich meine Farbmuster anzusehen. Hämatome, sagt er, seien das nicht, seiner Meinung nach hätte ich das auch schon länger, aber erst jetzt bemerkt. Es sei jedoch immerhin möglich, dass die Problemstellen auf Grund der Transfusion größer geworden sind.
Irgendein Grund zur Sorge bestünde jedenfalls nicht, durch tägliches Eincremen mit Advantan würde das bald wieder verschwinden.

In der Zwischenzeit wird ein zweites Bett hereingerollt und frisch überzogen. Alsbald stellt sich ein Patient namens Rudolf D. vor, der von da an mein Zimmergenosse sein wird; über ihn habe ich an anderer Stelle schon kurz berichtet. In der folgenden Nacht kann ich kaum schlafen und falle erst nach fünf Uhr morgens in einen kurzen Schlummer.
Es ist der neunte Jänner, und ich habe schon um 7h30 leicht erhöhte Temperatur, die bis zum Nachmittag auf 38,6 Grad Celsius ansteigen wird. Weil ich nur selten Fieber habe, fühle ich mich hundsmiserabel. Im Bett werde ich nach Ebene sechs zum Lungenröntgen geführt, Regina ist mit dabei und schaut besorgt drein. Glücklicherweise ist der Befund negativ, keine Besonderheiten, also offenbar kein Infekt, wie schön. Eine Schwester kommt mit einer Dosis Novalgin, das Fieber sinkt rasch um ein Grad und ich fühle mich besser. Mein Blutbefund hat sich nach der Transfusion verändert, Thrombozyten und Blutplättchen sind angestiegen, die Infektionsgefahr besteht nach wie vor.
Im weiteren Verlauf erscheint jemand, der Fotos von meinen schönsten Hautpusteln machen wird.
Ich möge ihm in sein Zimmer auf Ebene sechs folgen – ob ich wohl in der Lage sei, selbst zu gehen, ansonsten würde er mich transportieren lassen. Klar kann ich selber gehen, wenn auch nicht so hurtig wie der Herr Jemand, der sich später als Professor Sillaber vorstellt, ein weiterer medizinischer Kapazunder. In seinem Zimmer hat er nicht nur Kameraequipment, sondern auch Vorrichtungen, die man aus Fotoateliers kennt. Wieso gerade er nebenbei die Funktion eines Fotografen ausübt, finde ich nicht heraus. Die Aufnahmen gelingen, der Herr Professor ist zufrieden und entlässt mich mit den besten Genesungswünschen.
Am Abend ruft Regina an und klagt über starke Verkühlung mit Halsweh und allem, was dazu gehört. Sie wird jetzt ein paar Tage lang lieber nicht kommen, um mir nicht irgendeinen blöden Keim anzuhängen.

Am zehnten Jänner habe ich noch immer leicht erhöhte Temperatur, Tendenz fallend. Meine Befindlichkeit ist nicht berauschend, ich habe Null Appetit und bin recht apathisch. Bei der Visite will ich wissen, ob der Haarausfall im Zuge der Chemotherapie ein Kann oder ein Muss ist. Die Auskunft ist eindeutig: von den Kopfhaaren werde ich mich auf jeden Fall verabschieden, beim Bart weiß man es nicht so genau. Der Gedanke, eines Morgens „büschelweise“ Haare auf meinem Kopfpolster vorzufinden, ist keine erfreuliche Perspektive. Noch dazu schaue ich mittlerweile aus wie eine Kreuzung von Rübezahl und Dschingis Khan. Mein Entschluss ist daher bald gefasst: Es muss ein radikaler „Enthaarus Totalus“ her.
Als am Nachmittag Erik erscheint ist er sofort bereit, die Aktion durchzuführen. Mit dem Schneidegerät ohne Vorsatz fährt er kreuz und quer über Kopf und Gesicht und erfreut sich an kuriosen Zwischenergebnissen. Zum guten Schluss ist das Vorhaben gelungen, mit dem entfernten Produkt könnte man leicht ein Zierpolster füllen. Aus dem Spiegel grinst mich ein mir nicht bekannter bartloser Glatzkopf entgegen.

Chris Kenner – Sick And Tired (1957)
Erst 1958 zum Hit geworden – als Fats Domino den Titel coverte…

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