In meinen frühen Jahren als Schallplattensammler fanden sich bei vielen der damaligen Sammlerfreunde immer wieder dieselben Scheiben.
Damals war die Hochblüte des Rock ’n‘ Roll in Europa, also war es wenig verwunderlich, dass fast jeder Singles und EPs von Elvis Presley, Bill Haley, Jerry Lee Lewis, Fats Domino und Konsorten hatte, aber auch die der deutschsprachigen Helden wie Peter Kraus, Ted Herold etc. nicht zu kurz kamen.
Langspielplatten hatten nur wenige, die waren einfach zu teuer und konnten noch dazu auf manchen Geräten nicht einmal abgespielt werden. Interessanterweise fand sich eine EP fast in allen Kollektionen, die mit Rock ’n‘ Roll nichts zu tun hat, nämlich ein Konzertausschnitt aus Paris vom Dezember 1954, „Halle Hallelujah“ mit der Rückseite „Montmartre Boogie Woogie“ von Sidney Bechet und dem Orchester von Claude Luter. Im Original auf dem französischen Label Vogue erschienen, war dies in Deutschland und Österreich auf der Brunswick EP 10041 EPB erhältlich. Wieso gerade diese Platte bei uns so populär war und von so vielen gekauft wurde, ist mir bis heute unklar. Vielleicht war „Boogie Woogie“ im Titel der Grund, oder sie war bei irgendwelchen Händlern verbilligt abverkauft worden (immerhin waren EPs regulär damals mit öS 55,- nicht gerade wohlfeil). Wie auch immer, diese Scheibe war oft vertreten, obwohl „Petite Fleur“ die wesentlich bekanntere Komposition von Sidney Bechet war, bei uns aber meist in der Interpretation von Chris Barber mit Monty Sunshine auf der Klarinette zu hören.
Eine seiner besten Einspielungen, Gershwin’s „Summertime“, aufgenommen am 8. Juni 1939 für Blue Note unter anderen mit einem atypischen Meade Lux Lewis am Klavier blieb hingegen bei uns lange Zeit unbekannt.
Als ich in den frühen sechziger Jahren vom Rock ’n‘ Roller zum Jazz- und Bluesliebhaber mutierte, war dafür maßgeblich ein leider schon verstorbener Schulfreund verantwortlich, der Trompete spielte und die Grundmelodie des „Tin Roof Blues“ fehlerlos blasen konnte. Es ist naheliegend, dass Bechet eines der Objekte meiner Begierde war, und ich kaufte wahllos alles, was ich unter seinem Namen finden konnte. Leider waren für meine Ohren viele enttäuschende Platten darunter, nicht einmal seine Aufnahmen mit Louis Armstrong vom Mai 1940 („Coal Cart Blues“ etc.) konnten mich überzeugen.
Warum ich das alles gerade jetzt niederschreibe? Das aktuelle Musikmagazin „Concerto“ stellt in seiner letzten Ausgabe (Nr.5, Oktober/November 2015) eine opulente 4CD Box mit Aufnahmen von Sidney Bechet als CD-Tipp vor, die in der Schweiz entstanden sind, Details und Hörbeispiele siehe www.unitedmusic.ch/images/Jazztime062015
Bekanntlich hatte sich Bechet in den frühen Fünfzigern in Paris niedergelassen und spielte seit 1949 dort viele Konzerte, zumeist mit den Bands von Claude Luter, Andre Reweliotty und Pierre Braslawsky. Standarddiskografien dokumentieren auch Aufnahmen in der Schweiz seit 1949 (Genf), Chaux de Fond (1950/52), Lausanne (1951) und Zürich (1955), dass jedoch genügend Mitschnitte vorhanden waren, um vier CDs zu füllen, wussten zuvor nur wenige. Ohne die Box selbst zu kennen gehe ich davon aus, dass es sich um ein großartiges Werk handelt, das mit Schweizer Gründlichkeit produziert wurde. Jazzfreunde werden es haben wollen, und für explizite Bechetfreunde und Komplettisten ist es wahrscheinlich ein Muss. Ich selbst werde es zum stolzen, aber sicher gerechtfertigten Preis von sfrs 179,- nicht kaufen, und auch Reiner Kobe, der Verfasser des „Concerto“ Artikels, scheint davon nicht restlos überzeugt zu sein.
Allen, die nicht in eine der genannten Kategorien fallen, würde ich zuvor Aufnahmen auf Victor/Bluebird, Blue Note und/oder King Jazz empfehlen. Mir persönlich gefallen die “Really The Blues” Sessions (7/45 bis 12/47) sehr gut, bei denen unter anderen Sam Price am Klavier und der Sänger Cousin Joe zu hören sind (erschienen unter Mezz Mezzrow’s Namen).
Zu meinen Favoriten zählen auch die Einspielungen, die unter der Bezeichnung “Haitian Orchestra” im November 1939 mit dem Trompeter Kenneth Roane und dem Pianisten Willie „The Lion“ Smith für Varsity aufgenommen wurden.
Viele der zahlreichen Schallplattenaufnahmen Sidney Bechet’s sind auf CDs erhältlich, über deren Inhalte ich allerdings nichts aussagen kann, weil ich das meiste auf Vinyl habe.
Musikbeispiel: https://youtu.be/x_QuHq-G7aw – Sidney Bechet und Albert Nicholas, Paris 1953 – eines der schönsten Klarinettenduette die ich kenne!
PS: Dass Bechet auf der Titelseite des „Concerto“ vom Nov.2015 als Sidney Bichet angeführt ist, entlockt mir nur diese Fußnote…
Werner Simon, 16.10.2015