Relativ….
Der 12. März war einer jener Tage, der der Ruhe, dem Relaxen gewidmet war.
Die Nacht war kurz aber ruhig, noch wussten wir nichts vom tödlichen Unfall unseres Nachbarn und Freundes Gordon Murray.
Für 12 Uhr war Opa Norbert zum Essen eingeladen – diesmal holte ich ihn nicht von zu Hause ab, sondern er sollte zum Test selbstständig anreisen – weil warum? Vor Jahren hatte er als gelernter Klavierbauer Jahrzehnte lang bei der Firma Bösendorfer gearbeitet, die damals in der Graf-Starhemberg-Gasse ihren Sitz hatte. Bekanntlich funktioniert bei Alzheimer–Erkrankten das Langzeitgedächtnis gut, bei Opa Norbert ist das nicht anders. Bisher hatte er kaum einmal den direkten Weg zu unserer Wohnung in der Schönburgstraße gefunden, denn der Alzi zwang ihn immer zu seiner früheren Wirkungsstätte (den begehrten Bauplatz „ziert“ längst ein Neubau), von wo aus er die beste Sissi von allen mit dem Handy anzurufen pflegte (ja, das kann er noch!) und zu uns gelotst wurde. Zu unserer Überraschung läutete es vor zwölf an der Haustüre – unser Opa hatte sich diesmal gegen seinen Alzi durchgesetzt und hatte uns ohne Umweg gefunden. „Bösendorfer?“, fragte er erstaunt, „was soll ich dort, ist doch längst abgerissen, die sind jetzt in Wiener Neustadt. Da muss ich bald einmal hin….“.
Jaja, auch Opa-Norbert hat seine hellen Momente!
Kaum hatte ich ihm seinen gewohnten G´spritzten eingeschenkt, als es an der Wohnungstür läutete – es war Ann Murray, die Witwe nach Gordon, völlig verstört und begreiflicher Weise in Tränen aufgelöst. Unverzüglich bat ich sie ins Wohnzimmer, wo sich Sissi gleich zu ihr setzte, bereit für den ersten Teil der Trauerarbeit.
Ann war nur rudimentär in der Lage, den Unfallhergang zu schildern; erstens weil ihr Deutsch nach zwanzig Jahren in Österreich noch immer nicht berauschend ist, und zweitens weil sie in der Aufregung sowieso kaum ein Wort heraus bekommen konnte, so sprachen wir in einer ständigen Mischung von Deutsch und Englisch. Sie hatte im AKH einen Zettel bekommen, auf dem alle nötigen im Zusammenhang stehenden Erledigungen Step-by-Step aufgelistet waren. Obwohl – wie ich am nächsten Tag feststellen konnte – dieses Schriftstück auch in Englisch erhältlich ist, hatte man ihr ein deutsches Exemplar in die Hand gedrückt, mit dem sie ihre liebe Not hatte. Naja, immerhin sind wir in Österreich, und viel wird die arme Ann beim Schalter nicht gesagt haben. Erst später konnte ich in Erfahrung bringen, dass Gordon zum Zeitpunkt der Einlieferung bereits verstorben war und daher gleich weiter in die Gerichtsmedizin verbracht wurde. Die 89-jährige englische Freundin des Ehepaares hatte noch gelebt und wurde daher kurzfristig aufgenommen, verstarb aber kurz darauf ebenfalls.
Mittlerweise wurde der schreckliche Unfall auch schon im TV berichtet, und die Grausamkeit des Schicksals wurde in ihren Details deutlich. Selbstverständlich versprachen wir Ann jede erdenkliche Hilfe; schon am folgenden Montag würde Sissi sie als ersten Schritt ins Amtshaus in der Schönbrunnerstraße begleiten; bei vielen weiteren notwendigen Schritten würde sie in der Folge hilfreich sein. Gegen 13 Uhr begleitete ich Ann über den Gang in ihre Wohnung, wo eine ihrer engsten englischsprachigen Freundinnen, schon seit dem frühen Morgen anwesend gewesen war, um ihr Trost zuzusprechen; allein wäre Ann wahrscheinlich völlig hilflos gewesen.
Opa-Norbert war die ganze Zeit über im Nebenzimmer geblieben und hatte sich instinktiv (?) nicht blicken lassen, Erik war gescheiter Weise auch nicht aus seinem Zimmer gekommen; er hatte sich auf seinen Mathe-Test im Rahmen der Berufsreifeprüfung vorzubereiten.
Nach dem Essen sind wir sehr froh darüber, dass Erik unseren Opa mitnimmt und zur U-Bahn begleitet, wir hätten keinen Kopf mehr gehabt für ihn…. kurz kehrt Ruhe ein bei uns!
Warum ich mich über dieses traurige Ereignis verbreitere?
Mit mir hat es nichts zu tun, wenn man davon absieht, dass fast alle Krankheiten eine psychosomatische Komponente haben und dass Sissi und ich einen lieben Freund auf so tragische Weise verloren haben.
Welcher/welche der in dieser Folge vorkommenden Personen in dieser Geschichte ist in einer beneidenswerten, glücklichen Situation? Welcher/welche eher nicht bis überhaupt nicht?
– Alles ist relativ!
11.3.2017, ein schöner Abend auf einem Ball… und zwei Stunden später war alles anders….